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von Jitka Perina, Januar 2020
Die Zeit rund um den Jahreswechsel bot mir die Gelegenheit, die Frage nach der Art zu stellen, wie wir leben und welche
Bedeutung Rituale in unserem Leben haben.
Mit Ritualen ist hier nicht die nostalgische Suche nach einer vergangenen Zeit gemeint. Rituale sind
Handlungen, welche Werte und Ordnungen einer Gemeinschaft repräsentieren. Sie haben einen symbolischen Charakter. Das Symbol verkörperte ursprünglich das Wiedererkennungszeichen
zwischen Gastfreunden. Der eine Gastfreund bricht ein Tontäfelchen durch, behält die eine Hälfte für sich und gibt dem anderen die zweite Hälfte als Zeichen der Gastfreundschaft.
So dient das Symbol der Wiedererkennung. Diese ist eine besondere Form von Wiederholung. Wir erkennen eine Konvention zwischen uns und anderen wieder.
Unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen wie Medizin, Psychologie und Biologie erforschen heute
Rituale. Noch immer ist weitgehend ungeklärt, welchen Nutzen sie für Menschen haben. Was wir wissen, ist, dass Rituale das Leben einfacher machen. Sie helfen uns, durch das Leben
zu kommen und dieses zu strukturieren. Rituale erleben im Management eine umfassende Wiederentdeckung. Die Ritualkompetenz ist zur Pflichtkür eines jeden modernen
Führungslehrgangs erhoben worden.
Wir nutzen die Festtage, um uns mit der Familie und den Freunden zu treffen und gemeinsam Weihnachtsfest und die letzten Tage des Jahres zu feiern, wie jedes Jahr. Das könnte man
schon als Rituale bezeichnen. Und wie jedes Jahr ist die Zeit knapp. Es gilt, diese zu nutzen, um sich von der beruflichen Belastung der vorausgehenden Wochen und Monate zu
erholen, sich auf den nächsten Einsatz vorzubereiten, schnell eine Reise zu unternehmen, etwas Neues zu erleben. Das Familientreffen oder der Trip wollen perfekt vorbereitet sein.
Das Konsumangebot ist riesig. Wir kaufen viel ein und wir konsumieren viel. Der Konsum bestimmt unser Leben, vor allem in der Zeit der Feste, also auch am Jahresende. Die Zeit, um
still zurückzublicken, nachzudenken und sich den anderen Menschen aufmerksam zuhörend zuzuwenden, bleibt uns eigentlich gar nicht. Die Tage verfliegen so schnell, dass wir kein
Ende und keinen Anfang wahrnehmen, alles läuft weiter ohne Unterbrechung.
Im Ritual geht man immer gleich vor, man befolgt festgelegte Regeln. Durch ihre Wiederholung vertiefen
Rituale die Aufmerksamkeit und stabilisieren das Leben. Durch das Wiederkehrende bieten sie etwas Bleibendes, Bewohnbares. Der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry bezeichnet
Rituale sogar als «Zeittechniken der Einhausung». Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort, in dem man verweilen kann. Sie stärken die Gemeinschaft und intensivieren die
Beziehungen. Die Intensität des Erlebten sorgt dafür, dass die Zeit verweilt. Der Philosoph Sören Kierkegaard setzt die Wiederholung sowohl der Hoffnung als auch der Erinnerung
entgegen. Die Hoffnung beschreibt er als ein neues Kleidungsstück, welches glänzt. Man hat es jedoch nicht an und weiss nicht, wie es wirklich sitzen wird. Die Erinnerung
vergleicht er mit einem abgelegten Kleid, das nicht mehr passt, weil man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung jedoch ist wie ein Kleid, welches zart und fest sitzt und
nicht verschleisst. Nach Kierkegaard wird man des Neuen überdrüssig, nicht des Alten, welches man wiederholt.
Heute räumen wir der Wiederholung keine Zeit ein. Auf der Jagd nach neuen Reizen und Erlebnissen verlieren
wir sogar die Fähigkeit zur Wiederholung. Das Gebot der Authentizität, Kreativität und ständiger Innovation zwingt uns permanent zum Neuen. Dies erzeugt jedoch nur Variationen des
Gleichen, welche immer schneller aufeinander folgen. Wir verfallen der Illusion des intensiven Lebens, welches ohne bewusste Wiederholung an tiefer Aufmerksamkeit und Intensität
verarmt. In der übertriebenen Suche nach immer Neuem verlernen wir auch die Fähigkeit des Abschliessens. Dadurch wird das Leben rein additiv. Rituale helfen uns insofern das Leben
zu strukturieren, als sie Beginn und Abschluss der verschiedenen Phasen des Lebens markieren und in eine Form giessen, was in der jeweiligen Situation sinnstiftend ist. Wir können
eine Geschichte abschliessen und die Zeit als zyklisch, in sich geschlossen erleben.
Der Zeit fehlt heute ein festes Gefüge. Sie ist kein Haus, sondern ein unbeständiger Fluss. Der Konsum
bietet uns Dinge, die zum schnellen Verbrauchen bestimmt und alsbald durch neue zu ersetzen sind. Das Verweilen setzt jedoch Dauerhaftes voraus. Die Haltbarkeit der Dinge ist für
die Philosophin Hannah Arendt das, was das menschliche Leben stabilisiert: Dinge, die immer wieder gebraucht, jedoch nicht verbraucht und konsumiert werden. Heute konsumieren wir
nicht nur Dinge wie Smartphones und Freizeitangebote, sondern auch Emotionen, mit welchen diese Produkte aufgeladen werden. So eröffnet sich ein unendliches Konsumfeld mit
emotionaler Aufladung. Wir verändern die Welt, während wir einen Fair Trade Kaffee trinken, Schuhe aus veganem Kunstleder tragen, die nächste Flugreise mit einer Klimaabgabe
buchen oder einer Drohnenschau statt einem Feuerwerk beiwohnen. Werte wie Nachhaltigkeit und Umweltbewusstheit werden bei solchem Konsum emotional aufgeladen und auf dem Ego-Konto
verbucht, was die Selbstachtung steigert. Dabei geht es uns nicht um die Gemeinschaft, sondern um das eigene Ego und Gewissen, das eigene Wohlbefinden.
Auch der Bereich der Kommunikation wird massgeblich von Ritualen beeinflusst. Eine oft genannte Art der
Rituale sind die Umgangsformen. Sie werden als unnötige Verpackung, überholt und unauthentisch kritisiert und missachtet. Dies trägt zur Verrohung der Gesellschaft bei. Schöne
Umgangsformen helfen, dem anderen aufmerksam zu begegnen. Sie erzeugen eine Resonanz, einen Zusammenklang, welcher den Boden für eine gelingende Kommunikation bildet und die
Entstehung der Gemeinschaftsgefühle ermöglicht. Die digitale Kommunikation bildet keinen Resonanzboden. Sie erzeugt Echokammern, in welchen man vor allem sich selbst sprechen
hört. Die digitale Kommunikation ist spontan und affektgesteuert und begünstigt eine direkte Affektentladung. Es kommt zu einer distanzlosen Affektkommunikation. Die Kraft der
Rituale besteht in der Schaffung der Form. Äussere Formen führen zu inneren Veränderungen. Die Gesten der Höflichkeit, des Wohlwollens und der Freude haben grosse Macht über
unsere Gedanken und unser Verhalten. In diesem Sinne braucht es Rituale für unser Zusammenleben.
Ref.:
Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Ullstein Verlag,
2019
Dorothee Echter: Führung braucht Rituale. Vahlen E-Book, 2012
Daimler und Benz Stiftung - das 14. Berliner Kolloquium 2010: Rituale – Was unser Leben
zusammenhält.
https://www.daimler-benz-stiftung.de/cms/veranstaltungen/berliner-kolloquium